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Die Zukunft der Innenstädte: Vom Kaufhaus zum Kulturzentrum

Angriff auf die City 2.0
Angriff auf die City 2.0

Angriff auf die City 2.0
Galeries Lafayette in Berlin, Foto: Elisa.leonICNBS/https://commons.wikimedia.org
»Mall« sehen, was jetzt kommt, könnte man über den Niedergang der deutschen Innenstädte scherzen, wären diese nicht durch Leerstand und Geschäftsaufgaben schon übel gebeutelt.

~Jürgen Tietz

Bereits vor der Coronapandemie bestimmte der Donut-Effekt die Entwicklung: Mit dem Wachstum an den Stadträndern geht der Leerstand in der Mitte einher. Als sich vor über 20 Jahren die Großstrukturen der Einkaufszentren in die kleinteiligen Innenstädte fraßen, um den traditionellen Kaufhäusern das Kundenwasser abzugraben, wurde von einem »Angriff auf die City« gesprochen – so der Titel eines damals viel diskutierten Buches. Und heute? Da ist der inhabergeführte Einzelhandel im normierten Einerlei der Filialisten tatsächlich zum Dinosaurier der Geschäftswelt geworden. Das Online-Shopping hat ebenso wie der Niedergangsbeschleuniger Corona, die Kaufhof-Karstadt-Pleiten sowie die steigenden Miet- und Immobilienpreise den Strudel des wirtschaftlichen Niedergangs befeuert. Bringt jetzt vielleicht »Kalle« die Lösung? So nennt sich in der beschwingten Projektentwickler-Sprache die Umnutzung des ehemaligen Karstadtareals an der Berliner Karl-Marx-Straße in Neukölln. Anstelle des Warenhauses ist dort ein hipper Nutzungsmix samt Rooftop-Bar geplant. Gentrifizierungsschub inklusive. Doch für alle, wie die Website schüttelreimend behauptet, wird Kalle wohl kaum da sein.

Niederschwelliger und ohne Werbesprechblasen bemüht man sich im hessischen Fulda darum, das alte Kaufhofareal durch die eigene Stadtentwicklungsgesellschaft zu bespielen, die das Areal erworben hat. Ziel ist es, die Innenstadt durch eine Nutzungsmischung aus ansässigem Einzelhandel, Co-Working, Bildungsangeboten und Kultur vorbildlich zu stärken. Wie nötig das ist, zeigt eine Prognose des Handelsverbands Deutschland. Bis Ende 2024 werden demnach deutschlandweit 46 000 Geschäfte seit 2019 aufgegeben haben. Neue Innenstadtkonzepte sind daher gefragt. Berlin will das mit den Galeries Lafayette erproben, die die deutsche Hauptstadt Mitte des Jahres verlassen. Wenn es nach der Berliner Kulturverwaltung geht, werden an der Friedrichstraße statt Austern und Bouillabaisse künftig die Bestände der Zentralen Berliner Landesbibliothek (ZLB) ausgegeben. Eine immobilienfachliche Prüfung durch die Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM) habe ergeben, dass das alte Kaufhaus in Sachen Traglasten für die neue Bibliotheksnutzung gut geeignet sei, heißt es aus der Kulturverwaltung. Zudem entspräche die vorhandene Nutzfläche des gesamten Quartiers 207 annähernd dem Bedarf der ZLB, der auf rund 37 000 m² veranschlagt wird. Die externen Lagerflächen am Westhafen würden weiter betrieben werden. Und auch die gläserne Architektur des Schmuckkastens nach einem Entwurf von Jean Nouvel wird als kompatibel mit dem öffentlichen Bibliotheksbetrieb angesehen. Transparenz als Imagefaktor. Offenbar bleichen nur die sonnenbeschienenen Buchrücken in meiner eigenen Bibliothek aus.

Derzeit laufen die Verhandlungen mit Tishman Speyer, dem Besitzer des Quartiers 207, dessen Hauptquartier im New Yorker Rockefeller Center residiert. Ob es zur vorbildlichen Umnutzung des extravaganten Gebäudes mit dem gläsernen Kegel im Herzen kommt, wird sich an der Kostenfrage entscheiden. Angesichts des aktuell schwachen deutschen Immobilienmarktes könnte sich die Bibliotheksnutzung des Q 207 als Win-win-Situation für Stadt und Eigentümer erweisen. Wichtig dürfte dabei werden, über welchen Zeitraum ein möglicher Mietvertrag läuft, denn ein Erwerb der Immobilie durch das notorisch klamme Berlin wäre zwar wünschenswert, erscheint jedoch unwahrscheinlich. In der Kulturverwaltung wird derzeit von einer Jahrhundertchance geredet. Die Idee, darbende Innenstädte durch Kultur neu zu beleben, klingt charmant. Das gilt gleich doppelt für Berlins Mitte, die durch den ideologisch durchdeklinierten Streit um den Autoverkehr in der Friedrichstraße das Zeug zur stadtplanerischen Lachnummer hatte, ohne dass sich das positiv auf die Umsätze des Einzelhandels ausgewirkt hätte. Mehr kulturelle Nutzung wäre auch deshalb wünschenswert, da sich in Mitte der süße Brei der Monokultur der Büros für Bundeseinrichtungen wie im Märchen der Brüder Grimm unablässig ausbreitet. Doch niemand findet den Mut, endlich einmal »Töpfchen steh!« zu rufen.

Ob kulturelle Nutzungen allerdings langfristig das probate Mittel sind, um dem innerstädtischen Leerstand erfolgreich entgegenzuwirken, bleibt gleichwohl ungewiss. Schließlich muss auch Kultur finanziert werden. Gerade erst haben die Staatlichen Museen in Berlin verkündet, dass sie zusätzliche Schließtage für ihre Häuser einführen müssen. Wobei – das mit dem Geld ist relativ. Allein die unendliche (Bau-)Geschichte des Pergamonmuseums auf der Berliner Museumsinsel wird bei der voraussichtlichen Wiedereröffnung des Haues gegen 2037 (sic!) weit über eine Milliarde Euro verschlungen haben. Dafür ließe sich eine Menge Leben in die Innenstädte bringen.

Der Autor ist Architekturkritiker in Berlin

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