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IMVT in Marseille von NP2F Architectes

Architektonischer Neustart
IMVT in Marseille

Die architektonische und programmatische Komposition des neuen IMVT in Marseille ist das gebaute Resultat des Wunsches nach einer transversalen und inklusiven Ausbildungsstätte, in der Architektur, Landschaft und Stadt miteinander vereint werden. Der im September 2023 fertiggestellte Gebäudekomplex fungiert mit seiner eigenwilligen Architektursprache als »Platzhalter« auf dem heterogenen Place Jules-Guesde und seinem Zentrum, der Porte d’Aix.

Architektur: NP2F Architectes, Marion Bernard, Point Supreme, Odile Seyler & Jacques Lucan

Kritik: Michael Koller
Fotos: Maxime Delvaux

Wie entwirft man eine zeitgenössische Ausbildungsstätte für Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung, die den gegenwärtigen und zukünftigen Anforderungen an die Professionen entspricht und gleichzeitig inspirierend auf die Studierenden wirkt?

– Indem man sie ins Stadtzentrum holt, wo sich die gegenwärtigen Fragen nach dem Zusammenleben und der Gestaltung urbanisierter Lebensräume am dringendsten stellen.

– Indem man die Architektur mit der Landschaftsplanung und dem Städtebau in einem Bauwerk zusammenbringt und sie miteinander arbeiten lässt.

– Indem man sie funktionell und architektonisch so gestaltet, dass sie nicht nur den Unterricht erleichtert und unterstützt, sondern auch die Kreativität der Studierenden anspornt.

Das Ergebnis des Institut Méditerranéen de la Ville et des Territoires oder kurz IMVT, ist ein zeitgenössischer Palazzo, der in seiner Architektursprache vom Palazzo Nobili-Tarugi in Montepulciano und dem Palazzo Lanfranchi in Matera inspiriert ist und der sich in seiner städtebaulichen und funktionellen Konfiguration auf das rechteckige Forum von Pompeji bezieht.

STÄDTEBAULICHER ANKERPUNKT

Der Place Jules-Guesde im 3. Bezirk von Marseille wurde im Rahmen des Stadtentwicklungsprojekts Euroméditerranée in den vergangenen 20 Jahren einem tiefgehenden Wandel zugunsten der Bewohner:innen und Fußgänger:innen unterzogen. Der heterogene Platz mit Bauwerken unterschiedlichster Epochen besitzt den Reichtum eines städtischen Raums mit Geschäften, Restaurants, Büros, Wohngebäuden, öffentlichen Gebäuden und einer ausgezeichneten Anbindung an die städtische und regionale Infrastruktur über Metro- und Buslinien sowie den benachbarten Hauptbahnhof.

Neben der Cité de la Musique wurde das Gebiet rund um die Porte d’Aix in den vergangenen Jahren mit Ausbildungsstätten wie der EMD Business School und dem IMVT bereichert.

Das IMVT fungiert in dieser heterogenen urbanen Landschaft aufgrund seiner Größe, seiner Architektur und seiner Lage an der Ecke des Platzes Porte d’Aix und des Boulevard Charles Nédelec als Ankerpunkt, der auch den Abschluss der neuen Blockbebauung beidseitig des Boulevards bildet.

DREI DISZIPLINEN UND EIN INTERDISZIPLINÄRER HOF

Das IMVT vereint in einem Bauwerk drei Hochschulen:

– die Architekturschule École nationale supérieure d’architecture de Marseille (ensam);

– die Hochschule für Landschaftsgestaltung École nationale supérieure de paysage de Versailles – Marseille (ENSP);

– das Institut für Stadt- und Regionalplanung der Region Aix-Marseille Institut d’Urbanisme et d’Aménagement Régional d’Aix-Marseille (IUAR).

»In der architektonischen Vision und der räumlichen Konfiguration der Anlage waren die Förderung des institutsübergreifenden Arbeitens und die Entwicklung vielschichtiger Querverbindungen ein entscheidendes Anliegen«, wie Paul Maitre Devallon, Mitbegründer des Architekturbüros NP2F, betont. Mit der Verteilung der Funktionen in drei differenzierbaren Bauteilen und um einen gemeinschaftlich nutzbaren Innenhof reagieren die Architekten einerseits auf die Hanglage des Grundstücks und schaffen andererseits vielfältige und verschiedenartig bespielbare Räumlichkeiten.

Der Pol der Ateliers und Computerräume wurde beispielsweise in einem lang gestreckten, geknickten und abgetreppten Volumen an der Nordwestkante des Grundstücks untergebracht.

Der Pol des Forschungszentrums bildet hingegen die städtebauliche Schnittstelle zu den benachbarten Mehrfamilienwohnhäusern am Boulevard Charles Nédelec. Neben den doppelgeschossigen Werkstätten auf Höhe des Forschungsinnenhofes sind die darüberliegenden Geschosse den Doktoranden, Forscher:innen und Berufseinsteiger:innen vorbehalten.

Der administrative Pol mit der Bibliothek und dem Forum schließt wiederum die Ecke zwischen dem Place Jules-Guesde und dem Boulevard Charles Nédelec. Ein Baukörper, der durch einen Rundbau auf dem Dach gekrönt wird. Zu diesen drei von den Architekten definierten Polen müssen angesichts des milden Mittelmeerklimas in Marseille die Außenanlagen als vierter Pol hinzugerechnet werden, weil sie de facto die Verlängerung der gemeinschaftlich nutzbaren Arbeitsräume darstellen.

DIE VERKEHRSWEGE ALS (STADT)BALKONE

Der zentral liegende und geschützte Eingangshof erfüllt eine Schlüsselfunktion in der Einteilung des Ensembles. Vom Haupteingang am Place Jules-Guesde durch ein ebenerdiges Volumen getrennt, verbindet er den 550 m² großen Ausstellungsraum mit der 300 m² großen Cafeteria und dem 550 m² großen, 450 Personen fassenden und teilbaren Auditorium. Er ist vor allem Startpunkt mehrerer skulpturartig in Szene gesetzter Treppenaufgänge in die OGs.

Über eine dieser Treppen gelangt man in den quer liegenden, sogenannten Versuchs- und Forschungshof im Geschoss darüber. Dieser Hof, der durch das Dach des darunterliegenden Hörsaals und der Technikräume gebildet wird, ist vom Boulevard Charles Nédelec aus befahrbar. Die verglasten Falttüren der an diesen Außenbereich anschließenden Versuchs- und Modellbauwerkstätten lassen sich vollständig öffnen, wobei die einfache Polycarbonatüberdachung über dem weißen Stahltragwerk als Wetterschutz dient.

An der Nordwestseite geht der Platz als treppenartig angelegter »Kieferngarten« in einen Grünstreifen über, der dem ansteigenden Hang folgt und als Puffer zu den Hinterhöfen der benachbarten Wohnbauten fungiert. Alle drei Pole werden durch Dachterrassen abgeschlossen, die als Versuchsgärten

und als Verlängerung der Ateliers und Arbeitsräume für die Landschaftsplanerinnen und -planer dienen. Die verschiedenen Plattformen, Plätze, Höfe, Gärten und Terrassen – z. T. mit massiven Pflanzentöpfen gestaltet –, sind durch breite Treppen, Laubengänge, Brücken und Balkone verbunden, die die außen liegende Erschließung der Ateliers, Werkstätten oder Büros bilden.

KOMPOSITION MIT KOLONNADEN

Das Bauwerk ist eine klassische Stahlbeton-Skelettkonstruktion mit tragenden Stützen und Stahlbeton-Geschossdecken. In seiner Höhe an die Höhe der Porte d’Aix anschließend, präsentiert sich das Gebäudeensemble seiner Umgebung mit verschiedenen Fassaden. Die massiven, 50 cm starken Kolonnaden, die die Fassade am Platz Jules-Guesde dominieren und in einem regelmäßigen Abstand von 4,50 m platziert sind, spielen nicht nur eine baukonstruktive Rolle. Sie schaffen die Beziehung zur Architektur der Porte d’Aix und eine visuelle Zusammenfassung der drei Pole und Bauteile zu einem kohärenten und funktionellen Bauwerk.

Am Boulevard Charles Nédelec haben die Architekten die Fassade in drei Teile aufgebrochen, die die unterschiedlichen Funktionen widerspiegeln. Während die vorgesetzten Kolonnaden rund um den Pol mit den gemeinschaftlichen und administrativen Funktionen fortgesetzt wurden, wurde die Fassade des Versuchs- und Forschungszentrums als homogenes Fassadenraster ohne Differenzierung zwischen Stützen und Decken entworfen. Die vorgesetzten Stahlgitter dienen als Sonnenschutz und lassen sich entlang des Innenhofs nach oben schwenken. Das zwischen diesen Bauteilen liegende, filigran anmutende Giebeldach der Innenhofüberdachung nimmt dem Komplex seine Massivität und erlaubt gleichzeitig den Einblick in die Tiefe des Baublocks.

Alle raumbegrenzenden Wände so wie die Fassaden sind isolierte Holzskelettkonstruktionen, die an der Fassade mit weiß lackierten, vertikalen Brettern verschalt wurden, wodurch sie wie massive Betonmauern wirken.

Die quer liegenden Stahlbetonrahmen in den Ateliers ermöglichen eine flexible Einteilung und eine Anpassung der Arbeitsraumgrößen. Während die außen liegenden Fenster- und Türrahmen größtenteils in Aluminium ausgeführt wurden, bestehen alle innen liegenden Türzargen aus Holz und schließen damit an die mit Brettsperrholz verkleideten Holzständerwände an.

Die Architektur des Bauwerks, die sich im Wesentlichen auf Stützen, Betondecken, Holztrennwände, großzügige Maueröffnungen und einige Metallbauteile beschränkt, soll sich, wie Maitre Devallon betont, zurücknehmen und in ihrer Nüchternheit als Kulisse und Bühne für Lehre und Forschung dienen.

EIN NEUSTART

Die Zusammenführung der drei Hochschulen in einem Bauwerk eröffnet völlig neue Perspektiven und Möglichkeiten auf inhaltlicher und fachübergreifender Ebene. Das IMVT kann sich sprichwörtlich zu einem Konferenz- und Ausstellungszentrum entwickeln, das es den Studierenden und Unterrichtenden erlaubt, an den regionalen, nationalen, aber auch internationalen Architektur- und Städtebaudiskurs anzuschließen. Wünschenswert wäre, dass im Laufe der Zeit alle Fachbereiche gemeinsam über die Grundstücksgrenzen des IMVT hinauswachsen und den umliegenden architektonischen und urbanen Raum einnehmen.


Die Vielschichtigkeit des Gebäudes lässt sich nur vor Ort erfassen. Unser Kritiker Michael Koller hatte es nicht weit, da er nicht nur in Marseille lebt, sondern immer wieder als Gastkritiker an dieser Hochschule eingeladen ist. Ein Rundgang mit dem Architekten (nicht im Bild) lieferte wichtige Einblicke.


  • Standort: Marseille, Bouches-du-Rhône
    Auftraggeberin: Ministère de la Culture (Kulturministerium)
    Bauträgerin: Oppic – Opérateur du patrimoine et des projets immobiliers de la Culture
    Architektur: NP2F Architectes (Projektarchitekturbüro), Paris; Marion Bernard, Marseille; Point Supreme, Athen (GR); Odile Seyler & Jacques Lucan, Marseille
    Bauleitung: Edifys, Chambéry
    Tragwerksplanung: DVVD, Paris
    TGA-Planung: ALTO ingénierie, Bussy-Saint-Martin
    Kostenplanung: VPEAS, Paris
    Akustikplanung: SARL Peutz et associés, Paris
    Lichtplanung: 8‘18‘‘, Marseille
    Planung Außenanlagen, Kanal und Straßen: AVR – Aménagement Voirie Réseaux, Noisy-le-Grand
    Landschaftsplanung: Atelier Roberta, Paris
    Erdreichsanierung: ERG Environnement, Vitrolles
    Grundstücksfläche: 4 998,82 m²
    Nutzfläche: 12 800 m²
    Bauzeit: Juni 2018 bis August 2023

NP2F Architectes


2007 gegründet von Nicolas Guérin, Paul Maitre Devallon, Fabrice Long und François Chas in Paris. 30 Mitarbeiter:innen planen und realisieren Projekte im In- und Ausland in Städtebau und Architektur.


Michael Koller

1992-2001 Architekturstudium an der TU Graz, in Neapel und an der École nationale supérieure d’architecture de Marseille, Diplom. 2005-07 Studienaufenthalt am Berlage Institute, Rotterdam. Seit 2001 Mitarbeit in verschiedenen Architekturbüros, u. a. in Frankreich und in den Niederlanden bei Claus en Kaan Architecten. Seit 2006 freier Architekturjournalist. 2016-17 Lehrauftrag an der TU Delft. 2016-17 Gastprofessur an der École spéciale d’architecture de Paris.

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